Armes Deutschland – Familien in Armut und die Pandemie. Ein Bericht.

Um auch andere Perspektiven und Sorgen zu zeigen als mein eigenes Leben widerspiegelt, schreibt hier wieder Maike Huhn einen Gastbeitrag über Menschen, die von Armut betroffen sind. Denn das betrifft Menschen während der Pandemie noch mal mehr als ohnehin schon. Ostern schrieb sie hier über arme Ostern.

Ich habe lange versucht, in Worte zu fassen, wie es Menschen mit geringem Einkommen derzeit geht. Sicher, ich habe trotz des Hartz-IV-Stempels immer noch Privilegien, wie eben ein abgeschlossenes Studium, aber von den grundsätzlichen Problemen am Existenzminimum bewahrt mich das trotzdem nicht. Es bewahrt vor allem auch mein Kind nicht davor, immer wieder damit konfrontiert zu sein, dass für irgendwas gewünschtes gerade kein Geld da ist. Die derzeitige Situation macht die Suche nach einem neuen Job im Bereich Geisteswissenschaften oder auch im inhaltlichen Datenmanagement nicht gerade einfacher. 

Armut hat viele Gesichter

Zunächst einmal sei gesagt, dass Armut sich nicht allein auf „temporär kein Geld haben“ beschränkt, und auch ein sogenanntes „sozial schwaches Umfeld“ sei hiermit als Begriff in Frage gestellt. Armut hat viele Gesichter und geht eben sehr oft mit wenig Geld einher. Es ist aber nie derselbe Betrag, der fehlt, es sind unterschiedliche Probleme, die diesen Mangel an finanzieller Stütze erzeugen. So zählen nicht nur Hartz IV und Wohngeld in diesen Bereich, sondern auch Erwerbslosenrente, und verschiedene Behinderungen sind sozialleistungsberechtigt.

Armut mit System

Systematisch ist sogar einiges so verankert, damit dieser Mangel erhalten bleibt, der Druck auf die Betroffenen ausübt und sie gefügig macht. Damit aber nicht genug: Auch auf Arbeitnehmer:innen übt es Druck auf, zu wissen, dass es noch schlimmer geht, nämlich ohne Job. Die kapitalistische Wertevorstellung, das Individuum sei nur dann ein würdiges Mitglied der Gesellschaft, wenn sich seiner geleisteten Arbeit ein monetärer (also Geld-)Wert entgegenstellen ließe, ist noch tief verwurzelt. Ebenso lässt sich am aktuellen Mindestlohn im Vergleich mit Hartz IV-Sätzen klar ablesen, dass das protestantische Arbeitsethos der 40-Stunden-Woche hier den Ton angibt. Eine 40-Stunden-Woche mit Mindestlohn ist so dicht am Existenzminimum in seiner Bemessung, dass diese beiden Rechnungen unmittelbar zusammenhängen.

Armut - Radfahren weil kein Geld für eine Monatskarte
Tweet zum Thema Armut

Die Würde des Menschen und der Mindestlohn


Reden wir über die Würde des Menschen und was es eigentlich dazu bräuchte (eine Meldung kommt auf 670€ Regelsatz, statt den aktuellen 446€ für eine erwachsene Person), müssen wir dringend auch den Mindestlohn von derzeit 9,50€ reden. Eine Person mit einem Kind würde also bei einer 40-Stunden-Woche vornehmlich erschöpfter, aber nicht wirklich weiter weg von den Harzt-IV-Bezügen leben.
Das soll übrigens nicht heißen, dass Arbeit für den Mindestlohn abzulehnen ist, sondern schlicht, dass der Mindestlohn für viele Berufe so niedrig ist, dass die Arbeit nicht *wert*geschätzt wird und der Endbetrag immer noch zu nahe an der Armutsgrenze liegt. Arbeit für den Mindestlohn „lohnt“ sich nicht.

Armut ist nicht einfach „kein Geld fürs Theater“

Armut ist so viel mehr.

#Armut in Deutschland heißt auch, ein schlechtes Gewissen zu bekommen, wenn man sich was „gönnt“ – und seien es einmal im Quartal frische Schnittblumen aus dem Supermarkt. Arme Menschen dürfen keine Freude haben, wir sollen dankbar und demütig und bitte nicht sichtbar sein.

Menschen, die von Armut betroffen sind, überlegen sich jede Ausgabe genau
Bei jeder Sache im Laden überlegen – und immer ein schlechtes Gewissen

(https://twitter.com/Mama_Huhn/status/1379677316201254913)

Einem Musiker wurde sogar vorgeschlagen, sein Instrument zu verkaufen, das er zur künftigen Ausübung seines Berufs braucht. Da es aber (wie auch ein Auto) ein Wertgegenstand ist, wurde der Verkauf vorgeschlagen.

Ernährung am Existenzminimum

Armut ist nicht, mal eben auf Schokolade zu verzichten, oder besser doch auf Fleisch. Armut, also das Existenzminimum, kann die Entscheidung sein, zu heizen oder zu essen. Ja, es ist so existenziell, daher ja der Name. Bei all den ungefragten Ratschlägen, an welcher Stelle Menschen mit dem Minimalbetrag an Geld noch sparen könnten, gehe ich innerlich immer noch die Wände hoch, auch wenn ich sie alle schon gehört habe. Zigaretten oder Fleisch sind hier schon absoluter Luxus, dessen Genuss quasi automatisch bedeutet, dass woanders das Geld fehlt.

Von Armut betroffene Menschen erleben Sorgen, die Menschen mit mehr Privilegien nicht haben
Der angekündigte Oster-Lockdown hatte massive Auswirkungen

Arme Menschen kaufen nicht neu

Armut ist zum Beispiel, ein Küchengerät nicht ersetzen zu können. Über ein Jahr lang stand ein kaputter Geschirrspüler (war geschenkt, hätte ich mir sonst nicht in die Wohnung holen können) in meiner Küche, weil ich ihn allein nicht repariert bekam und auch kein Auto hatte, um ihn zu entsorgen. Ich nutzte ihn stattdessen zum Abtropfen des dann per Hand abgewaschenen Geschirrs, oder um das dreckige Geschirr zu sammeln und nicht noch durch nachlässige Haushaltsführung bei eventuellem Besuch aufzufallen.
Der Kühlschrank muss an der Tür direkt geöffnet werden, weil die Handgriffe abgebrochen sind, das Gerät hatte ich bereits gebraucht gekauft. Am Herd ist die Stange, auf der sonst dekorativ Geschirrtücher vor der Ofenklappe trocknen könnten, beim letzten Umzug abgebrochen. Der Schutz an der Dusche vor Schimmel durch Wasserspritzer ist provisorisch. Im Kinderzimmer hängt immer noch ein Bettlaken über einer Klemmstange vor dem Fenster, statt eines Rollos, was ich mir vorgestellt hatte.

Armut ist auch, sich für den Geschirrspüler zu rechtfertigen, der ist ja schließlich Luxus. 

Kleidung reparieren, statt Dinge neu kaufen, Menschen, die von Armut betroffen sind, müssen sich selbst helfen
Kleidung wird repariert

Erlaubnis für den Umzug

Armut ist auch, sich beim Umzug auf Freund_innen verlassen zu müssen, weil ein Unternehmen trotz Pandemie nicht rechtzeitig vom Jobcenter bewilligt wird.
Armut heißt, argumentativ überzeugend darlegen zu müssen, warum ein Umzug nötig ist, wo doch die Wohnung von anderthalb Zimmern mit zwei Personen sowieso überbelegt ist.

Armut heißt, bei der neuen Kaltmiete um 9€ zu feilschen, weil das Jobcenter sonst die Miete nicht als förderungsfähig anerkennt.

Armut heißt, dem Jugendamt alle Bescheide vom Jobcenter, und dem Kindergarten alle Nachweise vom Jugendamt hinzulegen.
Armut heißt, allen erklären zu müssen, dass das Geld überall fehlt.

Armut
Ehrliche Worte

Familien in Armut

Armut mit Kind heißt zum Beispiel, aus abgelegten Klamotten noch Kleidung machen zu wollen, damit nicht wieder eine Rechnung kommt. Armut mit einer kaputten Nähmaschine heißt, man wird an der selbstgemachten oder umgenähten Kleidung dem Kind ansehen, dass es aus einem armen Haushalt kommt. Armut in der Familie kann bedeuten, die Verwandtschaft lange nicht zu sehen, weil das Geld für das Zugticket nicht reicht. Ein Auto gibt es natürlich nicht. Damit fallen auch mögliche Jobs weg, die größere Wege bedeuten würden. Fällt man aus einem Job heraus in die Hartz-IV Regelung, weil aufgrund des geringen vorherigen Lohns das ALG I zwar bezogen wird, aber nicht zum Leben reicht und daher aufgestockt werden muss, darf das Amt einiges verlangen. Ersparnisse (auch die des Kindes) dürfen überprüft werden und es darf verlangt werden, diese erst aufzubrauchen, bevor Leistungen gezahlt werden. 

Nachrichten haben oft noch eine weitere Ebene
Armut in der Pandemie – sich Risiken aussetzen müssen

Armut in der Pandemie

Armut in der Pandemie heißt, es ändert sich nicht viel an den möglichen Aktivitäten.

Nachdem die Mehrwertsteuer wieder die alte ist, ist einkaufen wieder ein Abwägen, ob ich das ÖPNV Ticket wirklich noch einen Monat brauche, um zum Beispiel das Kind zum Papa zu bringen, oder ob ich nicht doch noch einen Monat rumkriege mit weniger Essen für mich. Armut mit einer Essstörung heißt, zu wissen, auf wie viel Essen ich selbst verzichten kann, damit das Kind allzeit genug auf dem Teller hat und im nächsten Wachstumsschub noch 5€ für ein „neues“ Tshirt übrig sind. 
Armut in der Pandemie mit noch weniger Kontakten als sonst heißt auch, die ganzen Baustellen zuhause zu sehen, mit der eigenen minimalen Existenz den ganzen Tag konfrontiert zu sein.

Armut in der Pandemie bedeutet, endgültig kein Teil der Gesellschaft mehr zu sein.